Die Wand

 


Hoch ragt sie auf. Der obere Rand nicht zu erkennen. Auch rechts und links verschwindet sie im unendlichen.

 

Sie ist dunkelrot, über braun bis schwarz.

Wenn ich mit den Fingerspitzen darüber streiche spüre ich kleine vorstehende Sandkörner, wie sehr grobes, benutztes Schmirgelpapier, aus dem bereits einige Schmirgelsteine herausgebrochen sind. Gebrannte Ziegelsteine mit scharfen, aber unregelmäßigen Kanten.

Die Fugen, fingerbreit, heben sich hellgelb bis grau von den Ziegeln ab. Sie sanden leicht und halten doch die Wand zusammen.

Dort, wo Bäume nahe an der Wand wachsen, färben sich Steine und Fugen leicht dunkelgrün. Blütenstaub hat sich in den kleinen Rissen festgesetzt, Regen hat ihn ein- und ausgewaschen, die Wand in vielen Nuancen koloriert.

Kleine Moospolster haben sich in einigen Fugen auf dem schmalen Grad der Ziegelsteine festgekrallt.

 

Ich stehe vor ihr, die Arme ausgestreckt, die Handflächen gegen sie gestützt. Sie raubt mir den Atem. Der Himmel ist halbiert, er spannt sich als Halbkugel über mir, Sonne und Sterne durchbrechen mit ihrem Licht blaue oder schwarze Leinwand.

 

Ich habe das Gefühl, sie biegt sich nach vorne, über mich.

 

Und rechts und links, ich kann sie nur wenige Meter sehen, ich bin eingemauert.

 

Ich lege meine Stirn gegen sie - rau, kalt, hart.

 

Endgültig. Absolut.

 

Ich drücke dagegen, die kleinen Sandkörner bohren sich in meine Handflächen, die Arme durchgedrückt, der Rücken gebogen, das eine Bein gerade stemmend nach hinten, das andere leicht abgewinkelt, die Balance haltend. Mein Atem geht gepresst, die Schuhsohle rutscht über den Sand nach hinten, ein Spur hinterlassend, aber keinen Halt gebend. Die Handflächen schmerzen, die Arme knicken ein, ich lehne auf meinen Unterarmen, erschöpft.

 

Nichts hat sich bewegt, keinen Millimeter.

 

 *

 

Wie hoch ist sie, wie weit reicht sie nach rechts und links, wie tief gründet sie im Boden? Wie dick ist sie, unten so dick wie oben oder sich nach oben verjüngend? Wer hat sie gebaut und warum?

 

Was  ist auf der anderen Seite?

 

Findet sich irgendwo ein Tor - nein!

 

Und rüber klettern – nein!

 

Ende?

 

*

 

So nahe davor stehend sehe ich viele kleine Unterschiede, aber schon ein paar Schritte zurück werden die Ziegel gleichmäßiger.

 

Und noch weiter zurück, gleich.

 

Und noch weiter zurück zieht sie sich wie ein glattes, in vielen warmen Erdfarben leuchtendes Band quer durch das Land. Ab und zu verschwindet sie hinter Bäumen, taucht dann wieder harmonisch auf. Ein Bollwerk, unfassbar hoch, an den Seiten immer kleiner werdend, bis sie in der Ferne unsichtbar geworden ist.

 

Noch weiter zurück gehend wirkt sie wie eine riesige künstlerische Plastik, von einem neuen Christo, einem Verpackungskünstler, entworfen. Die andere Seite existiert nicht mehr, ist dematerialisiert.

 

Und noch etwas weiter zurück stellt sich die Frage schon nicht mehr, was sich wohl auf der anderen Seite befinden möge. Und auch das architektonische Rätsel verliert immer mehr an Bedeutung. Ich freue mich vielmehr an der Spannung zwischen der Ebenmäßigkeit der Baukunst und der ungebändigten Natur.

 

*

 

Und wenn ich noch weiter zurück gehe, gibt es sie nicht mehr und wenn ich noch weiter gehe, wächst sie langsam in der Ferne wieder auf.

 

 

Und dann weiß ich, was auf der anderen Seite ist.

 

 

Denn ich bin da.