und irgendwann vergessen

 


Vor weniger als einer Sekunde bin ich gestorben.

 

Jetzt steh ich arme Seele hier an meinem Bett und schaue auf mich hinab. Ganz schön alt sehe ich aus oder besser gesagt er, der da vor mir liegt, der ich körperlich mal war. Ich habe mich eigentlich immer viel jünger gefühlt. Gut, wenn ich morgens als erstes in den Spiegel geschaut habe, so in etwa sah ich dann doch wohl aus. Freude und Leid, Vergnügen und Sorgen, mein gelebtes Leben, intensiv war es offensichtlich gewesen, abzulesen im Gesicht.

 

Aber jünger gefühlt habe ich mich trotzdem!

 

„Du sahst schon seit langem so alt aus“, sagt ich /sie. „Du eitler Fratz, hast es dir nur nie eingestanden“.

 

 Pikiert schaue ich mich um.

 

Ich bin nicht allein. Neben mir stehen meine Ich/sie und ich/ er- Seelen.

 

Überrascht stelle ich fest, dass ich/sie kleiner ist als ich/er. Die Größe meiner Seelen bemisst sich offensichtlich an der Bedeutung oder Wichtigkeit, die ich der jeweiligen Seite meiner Persönlichkeit zu Lebzeiten beigemessen hatte. Irritiert. Ich, der ich mich doch immer als Frauenversteher und Gender korrekt handelnden Menschen gesehen habe, ich/sie müssten etwa gleich groß ich/er sein. Sie ist es aber nicht.

 

Ich/er sagt „Das nennt man Selbsttäuschung, mein Freund.“

 

Ich/sie und ich/er kennen uns schon lange, eigentlich schon immer. Einer Meinung waren wir selten, vertragen haben wir uns so richtig nie. Aber böswillig gestritten auch nicht, höchsten gerungen um den richtigen Weg, die richtige Antwort. Und was jeweils richtig war, war oft subjektiv richtig, selten objektiv.

 

Dass ich/sie und ich/ er ungleich groß sind, erstaunte mich, aber dass wir drei um mich herum stehen und auf mich herunter sehen, offensichtlich nicht. Weil ich weiß, dass „ich“ immer viele sind, mehr oder weniger viele, je nach Persönlichkeit.

 

Ich schaue mich um. So wie ich nicht alleine bin, sind auch wir drei nicht alleine. Im Zimmer verteilt, etwas zurück, stehen ich/Politi und ich/Liebe und ich/Freund. Ich erkenne auch ich/Reisender, ich/Snooker, ich/Lesender, ich/Fußball. Und im Halbdunkel des Raumes, immer mehr im Hintergrund verschwindend, noch viele von uns. Alles Teile meiner Seele bzw. Teile meiner Persönlichkeit, die ich bis vor wenigen Sekunden war. Und alle diese Teile zusammen, hunderte, sie alle waren in dem Kerl drin, der jetzt vor uns auf dem Bett liegt. Wir alle zusammen waren meine Persönlichkeit, werden unterschiedlich lang in Erinnerung bleiben und werden uns irgendwann im Vergessen auflösen. Nicht alle gleichzeitig, mehr oder weniger schnell. Nacheinander.

 

Aber noch streiten sich meine verschieden ich´s unter einander über ihre jeweilige Bedeutung bei der Beurteilung meiner Gesamtpersönlichkeit, die ich bis vor wenigen Minuten war, abzulesen an ihrer jeweiligen Größe. Bedeutung für mich, die ich bestimmt hatte. Bewusst oder unbewusst. Objektiv richtig oder orientiert an dem Bild, das von mir gesehen werden sollte. Das ich zeigen wollte. Und immer entschieden von mir!

 

Aber wie wurde ich tatsächlich gesehen? Wie wird das Urteil all der anderen sein, Familie, Freunde, Bekannte, alle, die um mich herum waren?

 

Sie werden zu vielen unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Und die individuelle, jeweils andere Gewichtung meiner ich´s wird über die unterschiedlich lange Erinnerungszeit meiner ich´s entscheiden.

 

Und bei jedem Beurteiler, jeder Beurteilerin werden es andere sein.

 

Nicht mehr ich entscheide - sie!

 

 

 

. . . und irgendwann vergessen.